Live A Live

Ein Zeitreise-Klassiker findet endlich den Weg in den Westen.


Atmosphärische Tempel, kulinarische Köstlichkeiten, die einzigartige Kultur – während meines ersten Japan-Besuchs vor fast 20 Jahren gab es zahlreiche Aspekte des handelsüblichen Alltags, die mein Leben gnadenlos auf den Kopf stellten. Insgeheim verfolgte ich aber ein persönliches Ziel: Die Erfüllung eines lange gehegten Videospieltraums! Mit meinen Ersparnissen wollte ich mir nicht nur einen japanischen Super Nintendo (beziehungsweise Super Famicom), sondern auch das niemals im Westen veröffentlichte Live A Live gönnen. Das Director-Debüt von Parasite Eve- und Chrono Trigger-Schöpfer Takashi Tokita mit dem allerersten Square-Soundtrack der legendären Komponistin Yôko Shimomura? Da führte für mich als wahrer RPG-Fan kein Weg daran vorbei!


Leider endete mein nerdiges Vorhaben in niederschmetternder Enttäuschung. Zwar konnte ich die antike Konsole rasant in meinem Besitz bringen, hatte auf der Suche nach dem gewünschten Titel allerdings kein Glück. Und obwohl mir zahlreiche SNES-Klassiker im Laufe der nachfolgenden Monate enorm viel Trost spendeten, zwickte mich die verpasste Chance noch viele Jahre lang im Gaming-Hirn. Bis Nintendo im Februar 2022 unverhofft ein Remake für die Switch angekündigte – und zugleich den so lange herbeigesehnten Release außerhalb Japans feierlich bestätigte.


Nach einer langen Odyssee halte ich Live A Live nun also endlich in meinen Händen und muss mir nach einem regelrechten Test-Marathon die wohl wichtigste Frage stellen: Hat sich das lange Warten und der zuvor geleistete Aufwand eigentlich gelohnt? Die Antwort findet ihr in den nachfolgenden Zeilen.


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Viele Helden, viele Geschichten, viele Abenteuer


Strenggenommen folgen Rollenspiel seit Jahrzehnten einer strengen Regel: Obwohl die übergeordnete Rahmenhandlung relativ linear abläuft, wird das narrative Gesamtkonstrukt durch mehrdimensionale Charaktere, vielschichtige Themen und optionale Nebenstränge auf ein episches Level gehoben. Live A Live schien sich dieser Regel allerdings bereits 1994 nicht beugen zu wollen und setzte lieber auf verschiedene Geschichten, die durch unterschiedliche Helden, Settings und Epochen unabhängig voneinander funktionierten und dem Spieler dadurch bedeutend mehr Entscheidungsfreiheit bieten sollten.


Ein sicherlich gewagtes Experiment, das das erhoffte Ziel jedoch erstklassig erfüllen und somit auch beim Remake nicht nur eine besondere Faszination, sondern gleichzeitig auch einen herrlichen Unterhaltungswert auslösen kann. Ohne langes Vorgeplänkel werde ich nämlich direkt zur Kapitelauswahl gelotst, also ohne Tutorials oder ausgedehnte Erklärungen zum Herrscher über mein eigenes Abenteuer ernannt. Ein Gefühl, dass mir RPGs in dieser Form (und vor allem mit dieser Geschwindigkeit) nur sehr selten vermitteln konnten.


Überraschenderweise fiel mir die anfängliche Wahl dann aber doch enorm schwer, konnte ich meinen gewünschten Anfangspunkt doch nur schwer definieren. Folge ich der angedachten Reihenfolge und springe in die Urzeit? Der Wilde Westen klingt aber auch recht vielversprechend. Oder lieber doch als Shinobi durch das Edo-Japan schleichen? Im direkten Vergleich klingt die Gegenwart da fast schon plump – aber vielleicht erwartet mich auch hier eine spannende Erzählung? Und welche futuristischen Sagen würden mich wohl in der nahen und fernen Zukunft erwarten?



Die Qual der Epochenwahl


Tatsächlich möchte ich in diesem Test gar nicht weiter inhaltlich auf die einzelnen Episoden eingehen, machen das eigenständige Erkunden und Erleben jeder Epoche doch einen Großteil der eigentlichen Erfahrung aus, dürfen also definitiv als hauptverantwortliche Elemente für den herrlichen Spielspaß bezeichnet werden. Trotz einer gewissen Oberflächlichkeit – hierzu werde ich später dann doch noch spoilerfrei einige Worte verlieren – zog mich die mehrteilige Zeitreise nämlich ausnahmslos in ihren Bann und sorgte durch die dank eines durchdachten Konzepts gekonnt und glaubwürdig umgesetzten Schauplatzwechsel für willkommene Abwechslung. Zum Glück entpuppte sich das in den zahlreichen Trailer umjubelte Hauptfeature also nicht als lahmer Marketing-Trick, sondern behauptete sich stolz als wahrer Kaufgrund.


Nun möchte ich jedoch meine zuvor begonnene Leidensgeschichte fortsetzen, immerhin war diese mit der altbekannten Qual der Wahl noch nicht abgeschlossen. Nach langer Überlegung wagte ich schlussendlich den Sprung in die Urzeit, bereute diese Entscheidung allerdings rasant. Nicht etwa wegen der erzählerischen Qualität, sondern da mich urplötzlich der Wilde Westen mit seinem wortkarten Revolverhelden, fiesen Banden und tödlichen Showdowns unliebsam unter den Gaming-Fingernägel brannte. Regelmäßige Restaurant-Besucher könnten dieses Gefühl als Vorspeisen-Dilemma abgespeichert haben, das bei der vermaledeiten Salat-oder-Suppe-Frage ausgelöst wird.


Doch auch hier hatten Director Takashi Tokita und sein Team ein Herz mit sprunghaften Abenteurern wie meiner Wenigkeit und bieten mir die Möglichkeit, bereits begonnene Zeitwanderungen temporärer zu pausieren und parallel weitere Routen zu beschreiten. Bei der gewählten Handlungsaufteilung avanciert solch eine Funktion logischerweise zum regelrechten Segen und hebelt potenzielle Gefahren wie einsetzende Monotonie oder drohende Langeweile frühzeitig aus. Eine besonders fordernde Stelle erweist sich als unüberwindbar und raubt mir die notwendige Motivation? Kein Problem: Schnell zwischenspeichern, die Epoche wechseln und mit aufgetankten Leistungsbatterien die Herausforderung zu einem späteren Zeitpunkt erneut angehen. Ein Traum.



Taktisches Stellungsspiel


Erfreulicherweise erfordern solche spontanen Zeitsprünge keinerlei Umgewöhnungszeit, immerhin fällt das grundlegende Gameplay im Kern identisch aus. Nach einem kurzen Intro übernehme ich die Kontrolle über meinen Helden und steuere diesen in Richtung Missionsziel durch zahlreiche Umgebungen, die nicht nur kostbare Items, sondern auch etliche Geheimnisse beherbergen. Entledige ich mich dann noch unliebsamer Standardgegner, verdiene ich mir wertvolle Erfahrungspunkte, erhöhe meine wichtigsten Statusattribute und stelle mich schlussendlich einem hartnäckigen Boss entgegen. Damit hätten wir dann auch alle Punkte der handelsüblichen RPG-Checkliste abgehakt.


Beim Kampfsystem folgt Live A Live der Genre-Konkurrenz der 90er-Jahre dann aber nicht blind, sondern peppt die rundenbasierten Kämpfe mit kleineren Anpassungen und taktischen Nachjustierungen gezielt auf. Primär handelt es sich dabei um eine zunächst ungewohnte Bewegungsfreiheit, die sich durch ein in mehrere Kästchen unterteiltes Schlachtfeld ergibt. Anstatt meinen Feinden also wie versteinert gegenüberstehen und regungslos meinen Zug abwarten zu müssen, darf ich mich frei umherbewegen und den perfekten Ausgangspunkt für mein nächstes Manöver auskundschaften. Natürlich kommt der Schachbrett-Aspekt nicht von ungefähr: Alle Angriffe besitzen nämlich ein vorgegebenes Wirkungsfeld, gehen also direkt ins Leere, sofern sich in den anvisierten Kästchen kein Gegner befindet. Somit ist das wohlüberlegte Umpositionieren das A und O für eine geglückte Offensive, darf aber auch bei der Defensive nicht vernachlässigt werden.


Sicherlich muss man sich an den steten Stellungswechsel zunächst gewöhnen, vor allem jahrelange Rollenspielfreunde werden sich im Anschluss jedoch direkt heimisch fühlen. Fachmännisch werden die zahlreichen Spezialattacken ausprobiert, um die Stärken und Schwächen der angriffslustigen Rivalen auszuloten, strategische Meisterleistungen erarbeitet und gelegentlich auch mal in die Item-Tasche gegriffen, um die angeschlagene Gesundheitsleiste zu füllen. Nennenswert fordernd oder gar unfair wird Live A Live dabei nur äußerst selten, setzt allerdings das Verinnerlichen aller Mechaniken voraus. Stürzt ihr euch blind ins Gefecht und missachtet eure taktischen Vorteile, könnte euer nächster Schritt rasant in den unfreiwilligen Bildschirmtod münden.



Ein Sammelsurium einzigartiger Abenteuer


Allerdings hat Live A Live noch ein meisterhaftes Ass im Ärmel – und dieses zwingt mich dazu, das zuvor getroffene Versprechen, diesen Test gänzlich spoilerfrei zu gestalten, zumindest ansatzweise aufzulockern. Während das Fundament des Kampfsystem während des gesamten Abenteuers nämlich unverändert bleibt und vor allem durch die einzigartigen Fähigkeiten der verschiedenen Protagonisten ein wenig Varianz erfährt, sind die Episoden selbst allesamt mit einem einzigartigen Alleinstellungsmerkmal ausgestattet, das vor allem beim ersten Erkundungszug für angenehm frischen Wind sorgt und jedwede Ermüdungserscheinungen endgültig eliminiert.


Dennoch möchte ich meiner spoilerfreien Linie möglichst treu bleiben und werde dementsprechend weder alle Zeitalter ausführlich beleuchten noch die gleich folgenden Beispiele einem spezifischen Kapitel zuordnen – und auch jegliche Andeutungen tunlichst vermeiden. Immerhin macht das selbstständige Entdecken und Erforschen ohne Frage einen existenziellen Teil der Gesamterfahrung aus. Sollten euch meine bisherigen Ausführungen bereits ausreichen, solltet ihr dennoch direkt zum nächsten Absatz springen. Allen anderen möchte ich mitteilen, dass ihr eben nicht nur stur von A nach B laufen und oftmals den erzwungenen kämpferischen Umweg über C akzeptieren müsst, sondern auch Gegenstände für einen großangelegten Hinterhalt ausfindig machen, bei einem fulminanten Turnier teilnehmen beim Infiltrieren einer Festung auf ein friedliches oder blutrünstiges Vorgehen setzen dürft.


Dabei wirft Live A Live die eigens gewählten RPG-Konventionen sogar unfreiwillig über Bord, spielen das Auskundschaften der Umgebung, das Sammeln wichtiger Erfahrungspunkte und somit auch die eigentlichen Stufenanstiege plötzlich keinerlei Rolle mehr, sondern müssen der neuen, nun übergeordneten Aufgabe weichen. Ein akzeptabler Tausch, erhalte ich dabei doch nicht nur Abwechslung, sondern gleichzeitig auch Wiederspielwert geboten, der mich zum erneuten Angehen eines bereits absolvierten Epoche animiert, um alternative Handlungsmöglichkeiten zu ergründen. Da verzichte ich gerne (ausnahmsweise mal) auf den typischen EXP-Regen.



In der Kürze liegt die RPG-Würze


Dass Live A Live 1994 mutig gegen den Genre-Strom schwamm, dürfte mittlerweile kein Geheimnis mehr sein. Die größte Überraschung erwartete mich allerdings erst zum Endes meines Tests: Da das Beenden aller Epochen ungefähr drei Stunden in Anspruch nimmt, fällt die Gesamtspielzeit mit knapp 20 Stunden vergleichsweise kurz aus und verkommt mit Blick auf einige moderne Open-World-Mammutwerke fast schon zu einem Witz. Wird dieser Umstand jedoch aus der richtigen Perspektive betrachtet, erkennt man nicht etwa einen vernichtenden Beinbruch, sondern vielmehr eine gezielt genutzte Stärke, die herausragend ausgespielt wird.


Ohne ausschweifende Zwischensequenzen oder künstlich in die Länge gezogene Leerlaufmomente erwartet mit nämlich ein durchweg unterhaltsames und pausenlos auf Hochtouren laufendes Abenteuer, das sich zu keinem Zeitpunkt dem klaffenden Abgrund der Langeweile nähert. Stattdessen werde ich nach einer einführenden Charaktervorstellung sowie einer groben Skizzierung der übergreifenden Handlung direkt in die ausgewählte Epoche entlassen und möchte diese bis zum Abspann auch überhaupt nicht mehr verlassen. Eine snackige Herangehensweise, die vor allem RPG-Freunden mit einem knappen Zeitkonto in die Karten spielt.


Fans von Triangle Strategy und Octopath Traveler freuen sich derweil über einen farbenfrohen und stellenweise erstaunlich detailreichen HD-2D-Look, der die grafischen Spinnenweben der Vergangenheit zwar nicht gänzlich entfernen, der fast 30 Jahre alten Zeitreise aber dennoch eine ansprechende Revitalisierungskur verpassen kann. Ein weiteres Highlight ist zudem der anfangs erwähnte Soundtrack, dessen ikonische Melodien nicht nur erhalten geblieben sind, sondern von der musikalischen Göttin Yôko Shimomura höchstpersönlich überarbeitet wurden. Und glaubt mir: In der variantenreichen Songliste werdet ihr etliche Ohrwürmer vorfinden, die ihr so schnell nicht aus dem Hinterkopf bekommen werdet.


Allein diese technische Überarbeitung unterstreicht eindrucksvoll, dass weder Square Enix noch Director-Legende Takashi Tokita planlos einen in Vergessenheit geratenen Klassiker aus der Schublade gezogen und für das schnelle Geld lieblos auf den Markt geworfen haben, sondern mit ausreichend Leidenschaft sichergestellt wurde, dass Live A Live nicht nur die verdiente Anerkennung bekommt, sondern zudem in seiner ultimativen Form nun auch endlich die Herzen westlicher Gamer erobern kann. Dass das ambitionierte RPG nach der damaligen Erstveröffentlichung als finanzieller Flop abgestempelt wurde und jegliche Hoffnungen auf ein Sequel jäh zunichtemachten, schmerzt mit Blick auf das phänomenale Remake dennoch enorm. Anstatt hier nun aber endlos über versäumte Chancen und schier endlose Wartezeiten zu lamentieren, möchte ich mit einer simplen Erkenntnis schließen: Besser spät als nie.


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Fazit


Live A Live ist zweifelsfrei ein einzigartiges Kapitel der RPG-Geschichte, eine ebenso ambitionierte wie auch wundervolle Genre-Perle, die nach fast 30 Jahren endlich das allererste Mal im Westen veröffentlicht wird. Und obwohl ich tunlichst versuche, abgedroschene Review-Floskeln zu vermeiden, komme ich an einem lautstarken „Das Warten hat sich absolut gelohnt!“ kaum vorbei.


Director Takashi Tokita entführt mich auf eine spannende Reise durch unterschiedliche Epochen und präsentiert ein fesselndes Abenteuer, das den Zahn der Zeit dank einer anschaulichen HD-2D-Grafik, einem himmlischen Soundtrack von Komponistin Yôko Shimomura sowie einem motivierenden Kampfsystem gekonnt bekämpfen konnte. Dass das Remake dabei nicht die Spielzeit-Schallmauer durchbricht, sondern sich gemütlich im 20-Stunden-Bereich ansiedelt, sollte dabei nicht als Nachteil angekreidet werden – immerhin fühlt sich jede Epoche dank einzigartiger Alleinstellungsmerkmale stets frisch an und streicht damit jegliche Längen und Langeweile aus der Erlebnisformel.


Solltet ihr auch nur ein Fünkchen RPG-Liebe verspüren und eine Nintendo Switch euer Eigen nennen, führt an Live A Live kein Weg vorbei. Es bleibt zu hoffen, dass der grandiose Klassiker die zweite Chance nutzen und die Herzen der westlichen Gamer-Community erfolgreich erobern kann, um die Enttäuschung der 1994 erfolgten Erstveröffentlichung wegstecken und immerhin fast drei Jahrzehnte später einen gebührenden Erfolg feiern zu können. Und wer weiß? Sollte dieses Szenario eintreffen, macht sich Herr Tokita vielleicht dann doch nochmal Gedanken über ein Sequel?

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