Judgment

Judgment



Man nehme eine Portion Yakuza, vermenge das Ganze mit einer Prise Ace Attorney et voilà! JUDGEMENT!


Es ist immer schwer, eine jahrelang bestehende Serie spürbar aufzupeppen. Selbst das von Kritikern stets gefeierte Ryu-Ga-Gotoku-Studio konnte die legendäre Yakuza-Reihe jährlich zwar weiterentwickeln, hielt dabei aber stets am altbekannten Gameplay-Korsett mit Protagonist Kazuma Kiryu als Träger fest.


Judgment soll nun zwar ebenfalls keine weltbewegende Super-Revolution darstellen, mit alltäglicher Detektiv-Arbeit und einem brandneuen Helden zumindest aber frischen Wind in die gefährlichen Straßen des Tokioter Stadtviertels Kamurocho bringen. Ein Spin-Off mit Ambitionen, also.


Ob die Mischung aus Prügeln, Ermitteln und Tokioter-Crazy-Alltag aber tatsächlich einschlägt und die packende Faszination der namhaften Geschwister-Reihe einfangen kann, das verraten wir euch in unserem Test.


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Auf beiden Augen blind


Ein Leben im verbrecherischen Stadtteil Kamurocho hatte Takayuki Yagami eigentlich nicht geplant. Tatsächlich befand er sich eigentlich auf dem gegensätzlichen Pfad: Eine aufstrebende Karriere als Anwalt stand für ihn in den Sternen, beim komplizierten Rechtssystem Japans ein regelrechter Adelsschlag.


Doch binnen kürzester Zeit stellte ein hart erkämpfter Freispruch sein Leben komplett auf den Kopf. Zunächst kam der Jubel und der Erfolg, eine schockierende Bluttat des Freigesprochenen brachte den rasanten Karriereaufstieg dann jedoch direkt wieder zum Platzen und brachte Yagami Spott, Häme und schwere Vorwürfe ein. Eine Rückkehr als stolzer Anwalt scheint für ihn ausgeschlossen.


Drei Jahre später trägt Yagami zwar weiterhin seinen Anwaltsorden bei sich, hat dem Gerichtssaal allerdings endgültig den Rücken gekehrt. Nun arbeitet er als Detektiv im Herzen Kamurochos und kümmert sich somit um verschwundene Personen, betrügerische Ehepartner oder aggressive Bandenmitglieder. Ein Leben, das zwar weder mit Spannung noch mit viel Ruhm glänzen kann, mit dem sich Yagami aber mittlerweile abgefunden hat.

Das Ganze ändert sich, als er in einen besonders prekären Kriminalfall gerät, der im direkten Zusammenhang mit einem gesuchten Serienkiller zu stehen scheint. Neben einem kaltblütigen Vorgehen und keinerlei aufzufindenden Spuren erschreckt vor allem ein Element: Den Opfern werden die Augen rausgestochen, anschließend werden sie einfach in einer dunklen Gasse entsorgt.


Und Yagami anfangs nur die Ermittlungen aufnimmt, ob ein ranghohes Yakuza-Mitglied zu entlasten, befindet er sich schon bald auf der Jagd nach dem Serienkiller, muss dabei jedoch feststellen, dass es sich hier nicht um eine simple Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Banden handelt. Sondern er sich in einem gigantischen Verschwörungsnetz befindet, in dem man niemanden trauen kann und jeder Schritt tödlich enden könnte. Und in dem sich Yagami letztendlich sogar mit seinen eigenen Vergangenheit auseinandersetzen muss.



Wendungsreiche Achterbahnfahrt


Jegliche Sorgen, dass Judgment in puncto Tonalität in eine völlig andere Richtung als meine geliebte Yakuza-Reihe bewegen würde, wurden bereits während der ersten Zwischensequenz zerstreut: Denn weder bei der Inszenierung noch bei der Spannungskurve muss man hier irgendwelche Abstriche oder unliebsame Änderungen akzeptieren.


Die unfassbar spannende Handlung zieht euch ebenso rasant wie auch gnadenlos in ihren Bann und gestaltet diese mit facettenreichen Charakteren, einer angenehmen Balance zwischen neuen Fragen und heiß ersehnten Antworten sowie einer vor allem gegen Ende anschaulichen Welle an schockierenden Wendungen durchweg packend. Wer hier beruhigt den Controller weglegen möchte, der wird sich definitiv bis zum befreienden Abspann gedulden müssen.


Es ist die filmreife Inszenierung, die das Ryu-Ga-Gotoku-Studio seit so vielen Jahren erstklassig beherrscht und auch bei Judgment wieder als fantastisches Story-Korsett an den Start schickt. Jeder noch so kurze Dialog wird mit schicken Kamerafahrten grandios eingefangen, verpasst dem interaktiven Krimi-Abenteuer dadurch eine willkommene Tiefe und wendungsreichen Passagen wuchtigen Nachdruck.


Ebenso gelungen fällt der denkbar schwere Spagat zwischen alter und neuer Fanbase aus. Zwar fühlt sich Judgment für Fans bereits nach wenigen Spielstunden wie ein Yakuza-Spin-Off an, verzichtet jedoch gänzlich auf den Handlungsballast der Reihe und öffnet sich mit brandneuen Akteuren somit auch neuen Touristen, die einen Abstecher nach Kamurocho unternehmen möchten. Bereuen werden sie es definitiv nicht.



Kamurocho, meine Perle


Während die Handlung mit einem subtilen Yakuza-Charme daherkommt, weckt der Schauplatz von Judgment bei Alt-Fans gnadenlos jegliche Erinnerungen: Diese dürfen sich nämlich über einen erneuten Abstecher in den (mittlerweile legendären) Tokioter Stadtteil Kamurocho freuen.


Um die Story voranzutreiben, steuern wir Yagami frei durch die Gassen des Viertels und dürfen gelegentlich mal einen kleinen Abstecher in einen örtlichen Supermarkt (es lohnt sich immer, ein wenig Proviant in seinen Taschen zu haben) oder ein Restaurant (denn nur mit vollem Magen lässt es sich gut ermitteln) unternehmen.


Zwar hat sich Kamurocho nur geringfügig verändert und bietet somit keine Lawine an brandneuen Lokalitäten, lädt mit einer unglaublichen atmosphärischen und lebendigen Präsentation jedoch auch bei Judgment zum ausgiebigen Erkunden ein. Ja, die vielen Bars, Lokale und Sehenswürdigkeiten Kamurochos sind mir bereits bestens bekannt. Aber ich habe sie halt noch nicht als Yagami erkundet – und wer weiß, was mich jetzt vor Ort erwartet?


Das Ryu-Ga-Gotoku-Studio versteht es einfach, seinen fiktiven Handlungsort mit viel Liebe zum Detail zu einer virtuellen Touristen-Tour durch Japan zu verwandeln. In Judgment spielen sie diese Stärke erneut aus und machen aus einer vermeintlichen unbedeutenden Kulisse somit einen unverzichtbaren Hauptcharakter, der primär Handlung und Atmosphäre auf ein ungemein hohes Niveau anhebt.



Sprechende Fäuste


Wir alle wissen allerdings, womit ein gemütlicher Spaziergang durch das nächtliche Kamurocho was unweigerlich verknüpft ist: Einem kurzen Wortgefecht mit respektlosen Yakuza oder Gang-Mitgliedern, denen man anschließend direkt die Kauleiste polieren muss.


Auch hier fühlen sich Yakuza-Fans direkt heimisch: Mit der aufgepeppten Engine wechselt man nach einer Begegnung mit aggressiven Bandenmitgliedern frei von jeglichen Ladezeiten oder -Bildschirmen direkt ins Kampfgeschehen und darf sich anschließend mit schmerzhaften Schlag- und Tritt-Kombos gegen unliebsame Schergen wehren. Mit der Zeit füllt sich zudem die Ex-Leiste, mit der man Yagamis Kräfte entweder kurzzeitig boosten oder gleich einen effektiven Spezialangriff einsetzen darf.


Zusätzlich dürft ihr etliche Gegenstände als Schmerzverstärker missbrauchen, weitere Fähigkeiten via Smartphone freigeschalten oder gemeinsam mit einem tatkräftigen Partner neue Moves ausführen. Judgment gibt sich spürbar viel Mühe, das letztlich simple Kampfsystem geschickt aufzupeppen und dieses die gesamte Spielzeit hindurch motivierend zu gestalten. Dieses Vorhaben ist geglückt.


Allerdings möchte ich euch an dieser Stelle vom einfachen Schwierigkeitsgrad abraten. Während dieser zumindest bei den Boss-Kämpfen ein wenig Herausforderung zu erzeugen weiß, zwingt euch bereits die normale Stufe zumindest zum geschickten Einsatz der Block- und Ausweichfunktion, wodurch euch selbst unüberlegte Aktionen während eines simplen Straßenkampfes in die Bredouille bringen können.



Ablenkungen en masse


Missionsziel steht, Schlagpraxis sitzt – nun steht der Haupthandlung nichts mehr im Weg. Doch Judgment hat anderes im Sinn: Und bringt euch in feinster Yakuza-Manier gefühlt alle paar Schritte auf einen ebenso optionalen wie auch unterhaltsamen Nebenpfad.


Aus dem Nichts begegnet ihr Passanten, die euch eine Nebenaufgabe anbieten. Oder werdet vor eurem Büro angesprochen und gebeten, einen kleinen Fall zu lösen. Dann sollt ihr auch noch kurz in der Spielhalle vorbeischauen, um euch hier mit coolen Spielen wie Virtua Fighter oder dem Zombie-Shooter Kamuro of the Dead auszutoben. Da kann man ja glatt noch eine Runde Darts, Poker oder Blackjack reindrücken...


Judgement erschlägt euch regelrecht mit packendem Neben-Content, lässt diesen dank einiger Belohnungen vom unnützen Zeitvertreib zur wertvollen Nebenaufgabe avancieren. Ob wir nun einen coolen Gegenstand kassieren, unseren Geldbeutel füllen oder Erfahrungspunkte zum Aufwerten aller wichtigen Statusattribute sowie dem Freischalten brandneuer Fähigkeiten erhalten, der Motivationsfaktor ist enorm hoch.


Via Smartphone-App könnt ihr die Nebenaufgaben nicht nur im Auge behalten, sondern bekommt gleichzeitig eine ellenlange Liste optionaler Herausforderungen präsentiert, die es zu erfüllen gilt. Gleichzeitig versorgt euch das Handy mit neuen Nachrichten, die weitere Aufgaben oder gar Dates eröffnen und euch noch weiter in die Welt der Side Quests abdriften lassen. Zusätzlich seht ihr hier, welchen Stadtbewohnern und Ladenbesitzern ihr helfen könnt, wodurch ihr nicht nur ein wichtigstes Freundschaftsband knüpft, sondern euch gleichzeitig den Zugang zu neuen Vorteilen und Items verschafft.


Wer mit Yagami wirklich jeden letzten Winkel erkunden, jeden Zivilisten glücklich machen und eine perfekte Endwertung in seiner App erhalten will, der sollte definitiv an die 100 Stunden Spielzeit (Haupthandlung inklusive) einplanen. Die gute Nachricht: Hier darf man sich über eine stets enorm hohe Motivationskurve freuen, die mit immer neuen Aufgaben und Herausforderungen den Meisterdetektiv in euch weckt.



Mit der Lupe in Richtung Wahrheit


Allerdings ist Yagami nun eben kein Yakuza, sondern ein Detektiv – kein Wunder also, dass sich das Ryu-Ga-Gotoku-Studio neben dem Abspulen altbekannter Yakuza-Tugenden einige Neuerungen aus dem Ärmeln geschüttelt hat. Doch leider liegen hier neben einigen Stärken zugleich auch die größten Stärken des Action-Adventures.


Neben den zahlreichen Kämpfen und Nebenaufgaben stehen bei Judgement klar Ermittlungen im Mittelpunkt, die ihr mit Yagamis Gadgets sowie seinem Know-How erfolgreich zu Ende führen müsst, um den aktuellen Fall erfolgreich abzuschließen. Dabei erstreckt sich das Repertoire über Drohnen-Einsätze, möglichst unbemerkte Verfolgungen, dem Zusammenfügen verschiedener Hinweise und dem Warten auf den richtigen Zeitpunkt für den perfekten Kamera-Schnappschuss.


Diese Segmente bilden ohne jede Frage den frischen Wind und bringen dank einer leichten Prise Ace Attorney nicht nur Abwechslung, sondern gelegentlich auch ein wenig Humor ins Spiel. Wenn man eine Zielperson erfolgreich beobachtet hat oder Eins und Eins vortrefflich zu Zwei zusammengezählt hat, stellt sich ein angenehmes Zufriedenheitsgefühl ein. Dieses wird durch die Möglichkeit, eure Drone sowie detektivischen Fähigkeiten gezielt aufzumotzen konsequent verstärkt.


Leider litten bereits die neuen Features der Yakuza-Vergangenheit gerne mal an Kinderkrankheiten, die erst in späteren Ablegern ausgemerzt wurden – und Judgement schließt sich dieser Problematik an! Viel zu oft fällt die Steuerung während der Ermittlungssegmente viel zu hakelig und damit umständlich aus, nicht selten gingen Verfolgungen fast in die Hose, weil eine kurze Beschleunigung plötzlich zu einem lautstarken Sprint wurde. Befragungen und Beweiskombinationen wurden in puncto Schwierigkeit derweil viel zu niedrig angesetzt und lassen nur selten Raum für Fehler zu, wodurch man sich hier eher motivationslos durchklickt als engagiert zu tüfteln.


Letztlich stellt das Ganze in Anbetracht der langen Positiv-Liste maximal einen kleinen Blutfleck auf der ansonsten lupenrein weißen Weste dar. Da diese Passagen jedoch klar im Fokus von Judgement stehen und somit nicht einfach ignoriert oder gar schnell über sich gebracht werden können, stoßen sie einem vor allem auf der Zielgeraden gerne mal sauer auf.



Auf dem Yakuza-Level


Der Weg in Richtung Abspann war – erwartungsgemäß – ein sehr langer. Am Ende meiner Ermittlungen wurde mir eine Spieldauer von knapp 40 Stunden angezeigt. Kein Wunder, wenn man an fast jeder Ecke mit einer motivierenden Ablenkung rechnen kann.


Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich eigentlich das Ende der Haupthandlung erreichen wollte, dann aber doch plötzlich mit meiner Herzensdame ein unvergessliches Date erlebe, einen Abstecher ins Kasino unternehme, alle Speisen der Stadt verschlinge oder bei einer Runde Baseball die Seele baumeln lasse. Das altbekannte Yakuza-Prinzip, das auch bei Judgment gnadenlos zuschlägt.


In puncto Inszenierung braucht sich das Spin-Off im Geiste dann auch nicht hinter dem großen Bruder zu verstecken. Abermals hat man sich namhafte japanische Stars an Land geholt, um die zahlreichen Haupt- und Nebencharaktere vor allem während der zahlreichen Zwischensequenzen mit Leben zu füllen und dabei ein filmisches Erlebnis auf die Beine zu stellen, das einige Krimis der letzten Jahre spielend leicht übertrumpft und dann schicker Optik und einer nicht minder gelungenen, englischen Sprachausgabe dann auch in der B-Note begeistert.


Es fühlt sich so an, als hätten die Entwickler des Ryu-Ga-Gotoku-Studios alles getan, um euer frühzeitiges Entfernen von der Konsole unmöglich zu machen. Ob es nun die filmreife Inszenierung ist, die schicke Optik, die fantastische Sprachausgabe, ein packendes Kampfsystem, etliche Upgrade-Möglichkeiten oder der mit viel Leben, Nebenaufgaben, optionalen Stories und Mini-Games gefüllter, Tokioter Spielplatz Kamurocho ist – an jeder Ecke erwartet euch eine neue potenzielle Gefahr, die einen weiteren, schlaflosen Gamer-Abend garantiert macht.


Judgment besitzt den ultimativen Yakuza-Körper, in dessen Venen neues, frisches Blut fließt. Und obwohl das Pumporgan aufgrund neuer, nicht perfekt integrierter Neuerungen gelegentlich mal ins Stocken kommt, gerät es zu keinem Zeitpunkt völlig aus dem Takt. So wird Kazuma Kiryu zwar weiterhin schmerzlich vermisst, Takayuki Yagami stellt aber bereits mit seinem Debüt-Abenteuer ein perfektes Trostpflaster dar.


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Fazit


Judgment vereint zahlreiche Stärken der namhaften Yakuza-Reihe in einem rundum gelungenen Action-Adventure und erfreut mit einer packenden, wendungsreichen Handlung, zahlreichen Gameplay-Elementen sowie einem stattlichen Umfang Fans sowie Neueinsteiger zugleich.


Gelegentlich gerät das Gesamtwerk aufgrund hakeliger Verfolgungssequenzen oder zu simpel gestalteter Beweisführungen zwar ins Straucheln, kann sich mit packend inszenierten Kämpfen sowie dem erneut frei erkundbaren und mit ausreichend Leben gefüllten Kamurocho problemlos wieder fangen. Fans fühlen sich somit nach wenigen Minuten an die Vorgänger im Geiste erinnert, während Neuzugänge dank nicht benötigtem Vorwissen verwirrungsfrei durchstarten dürfen.


Somit verlassen die Entwickler des Ryu-Ga-Gotoku-Studios mit Judgment zwar nicht gänzlich ihre jahrelang aufgebaute Komfort-Zone, beweisen nach dem nicht minder gelungenen Fist of the North Star: Lost Paradise aber erneut eindrucksvoll, dass sie mehr als nur Yakuza können. Und wecken in uns damit die Hoffnung, in Zukunft erneut in Yagamis Detektiv-Welt eintauchen und eine zweite fantastische Gaming-Serie zelebrieren zu dürfen.

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